Was hat der Musikunterricht unserer vergangenen Schultage eigentlich mit uns gemacht? In vielen Gesprächen, in denen es darum geht, wer nun singen kann und wer nicht, wird die Fähigkeit, singen zu können von den Schulnoten ausgemacht, die uns früher unsere Musiklehrer und –lehrerinnen zuteilten, als wir vor 20 anderen Kindern im Mittelpunkt des Geschehens standen, um noch eine zusätzliche Note zu kassieren, die dann mit in die Zeugnisnote einging. Das Herz klopfte schneller, schon bevor wir den Musikraum betraten, in dem wir gleich diese „Prüfung des Lebens“ vor uns hatten, unsere Hände wurden schwitziger und die ganze Klasse, die sonst gefüllt war mit Klassenclowns und Schnatterliesen, war still – wir hätten eine Stecknadel fallen hören können. Keiner wollte drankommen, keiner wollte der erste sein, der ein vorgeschriebenes Lied singen soll, dessen Text er zwar tagelang gepaukt hat, von dessen Melodie aber nur noch das übrig ist, was der Stimmumfang und die Musikalität zulässt. Es wundert mich nicht, dass ich in vielen Momenten von Freunden, Bekannten und auch Patienten höre, dass sie unmusikalisch sind, weil sie schließlich früher im Singen nie besser als mit einer drei abgeschnitten haben. Doch ganz ehrlich – ist es nicht schade, dass es beim Singen im Musikunterricht darum geht, sich vor die Klasse zu stellen, in der die Mädchen die Jungs nicht mögen, in der ein Mädchen das andere Mädchen auslacht, weil sie nicht so gut singen kann wie eben jene? Sollte es nicht vielmehr darum gehen, Spaß am Singen und Freude an der Musik zu wecken? Singen sollte ein Miteinander sein, ein buntes Farbgemisch aus facettenreichen Stimmen, die ein Lied zu einem besonderen Ereignis machen, das nicht nur das Herz, sondern auch die Seele berührt und somit als ein ereignisreiches und vor allem auch lehrreiches Unterrichtsfach in Erinnerung bleibt? Es wäre viel ergiebiger, die ganze Klasse dazu zu bewegen, gemeinsam Kanons und Circle Songs zu singen, an denen die Kinder und jungen Erwachsenen jede Menge Fun haben und dadurch sogar noch motiviert werden können, außerhalb der schulischen Zeit in ihrer Freizeit einen Chor zu besuchen oder ein Instrument zu erlernen. Die Schüler hingegen werden bewertet für ihren Gesang – sie werden bewertet für das, was sie ausmacht. Es gibt Schulnoten für etwas, was wir mit dem Singen nach außen tragen – und das ist ziemlich viel von unserem Inneren. Unsere Stimme verrät viel über uns und unseren Geist. Sie ist ein intimes Gut, das wir besitzen und wodurch wir uns ausdrücken können – unsere Stimme ist etwas ganz Besonderes und individuell – und dann gibt es jene, die besser singen können als andere. Doch gibt es auch jene, die weniger gut singen, aber wahnsinnig viel Freude am Singen haben und sich bemühen – ihnen wird die Begeisterung genommen, weil sie sich bewerten lassen müssen für etwas, was ihnen weniger gut liegt. Es ist mir bewusst, dass auch Schüler im Musikunterricht durch Festsetzungen des deutschen Schulgesetzes mit Schulnoten eingeschätzt werden müssen, um eine Leistungseinschätzung am Ende des Schuljahres einreichen zu können. Doch Musikunterricht sollte viel mehr sein – nämlich die Gleichstellung mit naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Fächern sowie zur Förderung und des Weckens von kulturellem Gut, von einer guten Entwicklungsförderung in allen Entwicklungsbereichen, die die Schüler machen. Außerdem gilt es, den Menschen durch musikalische Angebote innerhalb der Schule die Zusammenhänge des Menschen als Zusammenspiel aus Körper, Geist und Seele als Einheit zu betrachten und die Kinder zu motivieren zur Ausformung neuer kreativer Möglichkeiten sowie zur Ich-Entwicklung. Selbstverständlich könnte man jetzt sagen, dass auch das Singen vor der Klasse zu genau dieser Entwicklung beiträgt, da die Kinder dadurch lernen, Selbstbewusstsein zu entwickeln, sich mit dem, was zu ihnen gehört zu zeigen, zu öffnen und „gerade zu stehen“ für das, was und wer sie sind. Meiner Erfahrung nach führt das jedoch genau zum Gegenteil – nämlich dazu, dass ich, wenn es um Gruppensingtherapie oder auch präventive musiktherapeutische Angebote rund ums Singen, viel zu oft höre „Ach wissen Sie, ich hatte in Musik früher immer schlechte Noten – ich kann nicht singen und werde es auch nicht mehr lernen“. Oftmals erwidere ich dann, dass es gar nicht darum geht, jeden Ton perfekt zu treffen, immer im Rhythmus zu bleiben und den Text eines jeden Liedes in und auswendig zu kennen – denn so ist es im Alltag auch nicht. Auch während unserer alltäglichen Strukturen geraten wir manchmal aus unserem Rhythmus, erfahren ungewöhnlich schiefe Klänge, die uns ein Missempfinden hervorrufen und Momente, in denen wir eben nicht den richtigen Text zum Antworten finden. Doch gerade das macht uns zum menschlichen Wesen – unsere Unperfektheit, während wir danach streben, perfekt zu sein. Und wenn wir früher in der Schule im Musikunterricht schon erfahren hätten, wir wertvoll es ist, die Erfahrung zu machen, mit den anderen durch das Singen in Kontakt zu treten, Spaß zu entwickeln und trotzdem bei sich zu bleiben, dann hätten wir als Klasse sicherlich jede Menge dazulernen können und es wären all mit derselben Note nach Hause gegangen, die miteinander gesungen haben – ob nun wie eine Heidelerche oder mit rauer Krähenstimme.