Wie schnell kann eigentlich ein Jahr vergehen? Es ist Anfang Dezember und ich merke erneut, wie die letzten 12 Monate rasend schnell vorüber gingen. Und so sehr ich mir in vielen Momenten gewünscht habe, die Zeit anhalten zu können, je klarer wurde mir, dass das nicht in meiner Macht liegt. Doch was ich weiß: jeder von uns hat 24 Stunden am Tag zur Verfügung, um ihn in vollster Lebendigkeit zu leben. Tun wir das auch wirklich? Ich habe Glück – denn ich stehe jeden Tag gern auf, um zur Arbeit zu gehen. Ich stehe jeden Tag gesund auf, kann meinen Tag mit einem Lächeln beginnen und weiß, dass es meiner Familie und meinen Freunden gut geht. Wie wichtig es ist, gesund zu sein und zu bleiben, merken wir wohl gerade jetzt am meisten. Ich erwische mich, wie ich mich frage, was ich wohl “später” über mein Leben berichten werde, wenn mich mal jemand fragen wird. Was ich weiß, seitdem ich mir diese Frage stelle ist, dass ich keinen einzigen Moment meines Lebens mehr verstreichen lassen will ohne ihn genutzt zu haben. Ich habe mit Tim und Martina von DEINE MEILENSTEINE gesprochen. Die beiden haben Geschichten von Menschen in ein berührendes Buch gepackt. Geschichten über das Leben, über die Endlichkeit, über Lebendigkeit und über das Sterben. Ich verspreche euch Gänsehautmomente und Augenblicke der Demut und Dankbarkeit.
WAS ICH NOCH ZU SAGEN HÄTTE
„Was ich noch zu sagen hätte“ in nur einem Satz erklärt …
Öffne dieses Buch; vielleicht öffnet es dich.
So viele Menschen. So viele Geschichten. So viel Leben. Und so viel Endlichkeit. Was ist denn nun wirklich wichtig in diesem Leben?
Sich selbst und das Leben an sich anzunehmen, und zwar in all seinen Facetten, den hellen und den dunklen, ist vielleicht das Wichtigste. Beides sorgt zwangsläufig für eine ganze Menge Gefühle, von denen einige auch schwer zu (er-)tragen sind. So schwer, dass die allermeisten von uns wahnsinnig große Probleme haben zu fühlen und wirklich verrückte Dinge tun, um ja nicht fühlen zu müssen. Konsum ist eine dieser Fluchten, das Einstellen von Kommunikation zu Themen hinter denen schwierige Gefühle stehen, ist ein anderes Beispiel. Und weil sich auf diese Weise immer mehr Gefühle anstauen, fühlen viele lieber gar nicht. Das ist ein riesengroßes Problem, weil ihnen so sowohl der innere Seismograph als auch der eigene Kompass fehlt, um ihr Leben zu leben und so zu gestalten, wie es ihnen ganz persönlich guttun würde. Und das merken die meisten leider erst, wenn es im Grunde längst zu spät ist.
Das Leben leben. So richtig. Ganz bewusst. Habt ihr ein Rezept, wie das geht?
Das konkrete Rezept ist sicher sehr individuell. Da wir uns alle aber viel ähnlicher sind, als wir oft denken, wissen wir auch, was wir verkehrt machen. Wir wissen längst, dass wir zu viel arbeiten, zu wenig lieben, zu oft fliehen und zu selten fühlen. Wir wissen, dass wir zu neidvoll nach links und rechts schauen, zu oft die Verantwortung aus den eigenen in fremde Hände geben. Und wir alle – jeder für sich – wissen auch, was uns ganz persönlich gut und weniger guttut, wie wichtig Schlaf und Bewegung unter freiem Himmel sind, usw. Es gilt, die richtigen Prioritäten zu setzen, die vielen Wege der Flucht zu beenden, freundlich zu sich und seinem Wesen zu sein sowie seinen Gefühlen zu begegnen. Dann lebt man. Nur durch Gefühle werden Erinnerungen geschaffen. Wer nicht fühlt, an dem rauschen die Jahre vorbei…
Wie kam euer Projekt zustande? Was ist die Vision dahinter?
An ganz vielen unterschiedlichen Stellen offenbarte sich uns plötzlich, dass unsere eigentlich nahezu enttabuisierte Gesellschaft ein riesengroßes Problem mit dem Thema Sterben hat; was verrückt ist angesichts der Tatsache, dass es uns ausnahmslose alle betrifft. Es gibt viel zu wenige Hospize mit viel zu wenigen Betten in Deutschland, die dann auch meist außerhalb des Lebens am Stadtrand liegen, elendig lange Wartelisten, so dass der Großteil der dringend benötigten Hilfe von ehrenamtlichen Menschen geleistet werden muss. Etwas spitz formuliert könnte man sagen: Es gibt keine Sterbekultur mehr in Deutschland; Sterbende haben wir effizient ausgelagert. Klingt hart, sehr hart sogar, aber so ist es leider. Warum? Weil die meisten Menschen Angst davor haben; sie wollen mit der Aussichtlosigkeit des Sterbens, mit dem Schmerz der Vergänglichkeit nicht in Berührung kommen. Diese Angst ist groß und macht Menschen unmenschlich.
Die letzten 100 Exemplare von „Was ich noch zu sagen hätte“ suchen ein neues zu Hause. Und dann? Wie geht es weiter? Steht bereits ein neues Projekt in den Startlöchern?
Alles, was wir mit diesem Buch erlebt haben, war besonders und in vielerlei Hinsicht sehr intensiv. Wir beenden diese Reise nun ganz bewusst nach zwei Jahren, weil sie uns viel weiter hinaus in die Welt geführt hat, als wir ahnen konnten, und, weil längst neue Projekte und neue Geschichten auf uns warten. Um was es dabei aber konkret geht, bleibt noch eine kleine Weile unser Geheimnis.
Wer steckt eigentlich hinter „Deine Meilensteine“? Und wie kann ich mir eure Arbeit vorstellen?
Dahinter stecken wir – Martina Grimm und Tim Wache; wir haben ein großes Herz für Menschen und ihre Geschichten und sind fest davon überzeugt, dass wirklich jeder eine Geschichte hat, die es wert ist, erzählt zu werden. Martina hat ein Händchen für alles Kreative und illustriert, Tim schreibt.
Zu uns kommen Menschen, die etwas in Buchform festhalten wollen: konkretes Wissen und Erfahrungen, ein Teil ihres Lebens, etwas, das sie von diesem Leben gelernt haben oder einfach die Geschichte, wie sie zu dem wurden, der sie sind. Andere suchen nach einem besonderen Geschenk für einen Lieblingsmenschen. Dann treffen wir uns und hören einfach zu, um etwas so Komplexes wie das individuelle Leben selbst zu begreifen und später in einem bestimmten Erzählrahmen wiedergeben zu können. Wir schreiben und illustrieren also, um zu helfen. Um biografische Aufarbeitung zu leisten und etwas über Generationsgrenzen hinweg zu hinterlassen.


Was bedeutet es für uns Menschen, über die eigene Biografie und über unser Leben zu schreiben?
In der Aufarbeitung und Reflektion des Geschehenen steckt alles drin, was das Leben lebenswert macht: Heilung, Liebe, Mut, Stolz und Spannung genauso wie Wut, Trauer oder Schmerz. Es ist ein bisschen wie mit dem eigenen Dachboden oder Keller, wo wir alle die Dinge in der Hektik des Alltags einfach hineinwerfen und gar nicht merken, wie sehr sie dort wirken. Es tut gut, sich Zeit zu nehmen, um einmal Ordnung hineinzubringen. Aussortieren, was alt und nicht mehr gebraucht wird, aber auch festzuhalten, was einem lieb und teuer ist. Es ergibt in jeder Hinsicht Sinn. Für sich selbst und für die Menschen um einen herum.
Meint ihr, es gibt „zu kleine“, „zu unwichtige“ oder „zu unspektakuläre Geschichten“, um sie in ein Buch zu packen?
Nein, denn: Jeder hat eine Geschichte, die es wert ist, erzählt zu werden. So spektakulär auch die Filme, das Theater und die Musik werden mögen: Was uns Menschen noch und für immer am meisten interessiert und fasziniert, ist das ganz normale, authentische Leben. Das eigene, aber auch das anderer Leute.
Schau doch mal bei DEINE MEILENSTEINE vorbei!
Was heißt es für euch, kreativ zu sein?
Zeit zu haben, um Dinge aus neuen Perspektiven zu betrachten.
Was denkt ihr – kann Musik ein Leben lang bleiben? Haben viele über alte Lieder, Konzerte oder andere Begegnungen mit Musik gesprochen?
Musik wird seine enorme Bedeutung wahrscheinlich niemals verlieren, weil sie etwas schafft, was wir unbedingt vermeiden wollen, wonach wir aber gleichzeitig eine sehr große unerfüllte Sehnsucht haben: berührt zu werden.
Auch Musiktherapie findet im Hospiz Anklang. Sie dient der Angst- und Stressreduktion, trägt zur Linderung von Schmerzen bei und ist im multimodalen Setting eine nachgewiesen wirksame Therapiemethode. MusiktherapeutInnen unterstützen dabei, ganzheitliches Körpererleben zu fördern, Gefühle auf Instrumenten darzustellen und bedeutsame Lieder als Stütze zu nutzen.
Musiktherapie in Hospiz und Palliative Care –
Was hat euch am Hospizprojekt ganz besonders berührt und beeindruckt?
Das ist unmöglich in eine Rangfolge zu bringen. Allein die Situation jemandem gegenüber zu sitzen, der sehr zeitnah sterben wird, ist in jeder Hinsicht beeindruckend. Vielleicht daher so: Wenn jemand sehr alt geworden ist und stirbt, dann fühlt sich das auf eine merkwürdige Art fair und natürlich an. Wenn jemand aber mit 20 Jahren sterben muss, dann fühlt sich das unnatürlich und unfair an, so sehr, dass der eigene Verstand es kaum fassen kann. Wenn man dann aber jemandem gegenübersitzt, der man selbst sein könnte, der sich im gleichen Alter, in der gleichen Lebenssituation befindet, dann berührt einen das auf eine Art und Weise sowie in einer Tiefe, die nur sehr schwer aushaltbar ist.
„Das schönste am Lebendigsein ist …“
… das Fühlen.
Liebe Martina, lieber Tim,
DANKE für eure Zeit!