Den ganzen Tag umgeben uns Geräusche. Kein Wunder, dass wir manchmal überflutet werden – von diesen Wellen unüberhörbarer Klänge, die ein Gemisch aus leisen und lauten, harmonischen und dissonanten, rhythmischen und unstrukturierten Einzelteilen für unsere Ohren bedeuten. Haben wir verlernt, uns einer Sache zu widmen, um das große Ganze nicht zu verpassen? Oder können wir gar nicht mehr nur einer Sache Aufmerksamkeit schenken, weil wir die Gelegenheit dazu gar nicht bekommen?
Es ist erstaunlich, wie viele Aufgaben wir gleichzeitig verrichten können – wir hören dem Kollegen zu, schreiben nebenbei die Einkaufliste für das Wochenende und plötzlich piept das Handy, weil eine Nachricht kam. Schnell wird sie gelesen, sie könnte ja wichtig sein. Doch Moment mal – worüber habe ich gerade mit meinem Kollegen gesprochen? Ich glaube, dass wir einander schon zuhören, doch manchmal bleibt in der Eile wohl wenig vom Inhalt hängen, weil wir mit den Gedanken schon wieder beim nächsten Punkt unserer To-Do-Liste sind. Nebenbei läuft das Radio, das Lied läuft heute schon zum dritten Mal und ich bekomme es gar nicht mit. Das Handy wollte ich längst auf stumm schalten, möchte aber nichts verpassen. Wir haben ganz schön viel um die Ohren – nur nicht die Aufmerksamkeit dafür, was unsere Ohren wirklich bräuchten. Nämlich die Möglichkeit, das Hören zu trainieren und sich dem zu widmen, was die Welt uns, den Hörenden, schenkt. Da gibt es nämlich jeden Tag viel mehr zu erforschen als den Radiosender, den Klingelton des Smartphones oder bekannte Werbemelodien.
Was hältst du also davon, dein Gehör ein bisschen zu schulen und ein Hörtagebuch zu schreiben? Das findest du Quatsch und weißt nicht, wofür das gut sein soll? Genau dann solltest du dich darauf einlassen und dir und deinem Ohr eine Chance geben. Die Chance, ganz Ohr zu sein. Kauf dir ein schönes Buch mit leeren Seiten und nutze es für dich ganz allein – ab heute ist es dein Hörtagebuch. Nimm am besten ein Notizbuch, das in deine Tasche oder deinen Rucksack passt, um es unterwegs dabei haben zu können. Sammel nun ganz persönlichen Höreindrücke und deine Gedanken dazu und schreib all das auf, was du wahrnimmst. Beginne mit ein paar Minuten am Tag an einem Ort, an dem du dich befindest und lausche ganz genau. Gib Acht auf Geräusche, Klänge, Musik und Sprache und fokussiere dich auf einen Höreindruck. Du kannst ihn entweder aufschreiben und versuchen, in deinem Notizbuch zu beschreiben oder du bist ganz kreativ und zeichnest, was du gehört hast. Beobachte, wie sich deine Wahrnehmung gegenüber Geräuschen verändert und was die Welt dir schenkt. Ich empfehle dir, auch mal ganz bewusst an dir unbekannten Orten oder Gegenden zu lauschen und zu staunen. Sei neugierig, aber erwarte nichts. Hör der Welt zu und bewerte sie nicht, nimm das auf, was dir begegnet. Und sei dir dessen bewusst, dass es natürlich auch Tage geben kann und wird, an denen du aktiv weniger hörst, als an anderen Tagen.
Unsere Ohren gewöhnen sich schnell an die Hörumgebung, in der wir uns befinden. Sogar an Lärm und Krach. Doch wie wäre es einmal mit dem Gegenteil? Was nehmen wir in der Stille wahr, was wir inmitten einer lauten Geräuschkulisse nicht wahrnehmen? Wie fühlt sich Lautstärke an, wenn wir gewohnt sind, nur von leisen Geräuschen umgeben zu sein?
Du kannst diese Sache mit dem Hörtagebuch natürlich auch mit Kindern machen, um ihnen bewusst zu machen, wie viele Geräusche und Klänge uns tagtäglich umgeben. Vielleicht wäre das ja etwas für dein nächstes Projekt in der Schule? Ihr könnte gemeinsam in den Wald gehen oder euch ganz bewusst der Geräuschüberflutung inmitten einer Großstadt aussetzen, ihr könnt fünf Lieder parallel laufen lassen oder auch ganz still im schallreichen Treppenhaus des Schulgebäudes sitzen und euch später berichten, was ihr hören konntet. Du wirst schnell merken, dass es spannend ist, die unterschiedlich wahrgenommenen Höreindrücke zu beobachten.
Was soll ich nun machen?
- Besorge dir ein Notizbuch mit leeren Seiten, das dir besonders gut gefällt.
- Gestalte dein Hörtagebuch so, wie du magst.
- Anfangs ein paar Minuten am Tag, später kann es auch während eines gesamten Spazierganges sein, achtest du nun auf Geräusche, Klänge, Töne, Laute, Sprache und Musik, die dich umgeben.
- Notiere deine Höreindrücke. Du kannst all das natürlich auch skizzieren oder malen.
- Schreibe auf, was du außerdem wahrnimmst – wie fühlst du dich beim Hören? Gibt es einen Unterschied zwischen dem linken und dem rechten Ohr? Nimmt deine Haut auch Klänge auf?
- Was verändert sich nach ein paar Wochen? Kannst du dich besser auf einen Reiz konzentrieren? Nimmst du Reizüberflutung anders wahr?
- Wenn es dir guttut, teile diese Idee mit Familie und Freunden.
- Du hast Fragen? Stell sie mir. Ich helfe dir gern und gebe dir Tipps.
By the way
Dich sucht ein Tinnitus heim? Du bist überempfindlich gegenüber Geräuschen oder du hast ein immer währendes Rauschen auf den Ohren, das dich oft nicht zur Ruhe kommen lässt? Dann nutze unbedingt die Möglichkeit des Hörtagebuchs, um die Aufmerksamkeit auf das Äußere zu lenken. Es gibt dir die Chance, das Hören mit positiven Emotionen zu verbinden und so deinem Tinnitus kontra zu geben.